12/2022
Barbara und der Heringschmaus

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---- Lesedauer ---
8 min
ZUM ORIGINALBEITRAG

Es war die Nacht auf den sechsten Jänner, die letzte der zwölf Raunächte. Weihnachten gerade erst vorbei.
Barbara räucherte den Hof mit den Kräuterbuschen, die sie im Vorjahr gebunden hatte: Palmkätzchen, Tanne und Wacholder. Sie mochte den süßen, leicht harzigen Geruch; Wacholder schärfte die Sinneswahrnehmungen und kräftigte den Geist. Jetzt ging es dem Winterausgang zu und sie freute sich mit jeder Faser auf die längeren Tage. Höchste Zeit, den Fisch einzulegen. Barbara hasste die Prozedur des Ausnehmens. Natürlich hätte sie genauso gut eine Konserve besorgen können, doch sie war der Ansicht, dass es nur recht und billig war, das elende Geschäft selbst zu erledigen. Brauch war Brauch, auch wenn es einem nicht in den Kram passte. Nachher, wenn man beieinandersaß und sich‘s schmecken ließ, war die feuchtblutige Angelegenheit schnell vergessen.
Das Dorf pflegte seine Traditionen. Der Heringsschmaus gehörte dazu wie das Aschekreuz. Die Speise aus eingelegtem Fisch, Äpfeln, Zwiebeln, Rahm und Dill läutete die Fastenzeit ein und manch einer sagte ihr entgiftende Wirkung nach. In Wirklichkeit, dachte Barbara, während sie vor dem Fass mit Salzwasser stand, in dem ein blausilberner Fisch hektisch umher schwamm und vor ihrem Schatten floh, brauchen sie nach den Wintertagen, der Ruhe, dem Alkohol und all dem Fetten und Süßen etwas, das sie auf den Boden der Tatsachen zurückbringt. Saures eben. Sie strich mit den Fingern durchs Wasser, hielt die Hand dann still, um den Fisch zu locken. Das Würzsalz lag in der Wanne bereit, den kurzen Stock hielt sie in der andern. Ein Schlag, ein Zappeln. Sie hatte die Prozedur schon viele Male durchgeführt.
Doch diesmal war etwas anders. Der Hering knabberte zutraulich an ihrem Finger und streckte dann den Kopf heraus. »Das willst du nicht wirklich tun«, sagte er lässig. Aufrecht stand er im Wasser und wedelte mit der Schwanzflosse. Barbara stieß ein Kieksen aus und tat einen hastigen Schritt zurück. Ein sprechender Fisch? Sie hatte in ihrem Leben einiges Verrückte gesehen, aber das überforderte ihren Verstand.

Der Hering schlug einen Purzelbaum, dann tauchte sein Kopf wieder auf. »Leg das Holz weg, bevor du etwas tust, das du nachher bereust.« Barbara ließ den Stock fallen. Vielleicht hätte sie doch auf das Schnäpschen verzichten sollen, das sie sich zum Abendessen genehmigt hatte - zumindest auf das zweite. »Was sollte ich bereuen?« Himmel, dachte sie und unterdrückte den Zwang, zu kichern, ich spreche mit einem Fisch! Hoffentlich hört mich niemand.
»Und sollte in einer Schüssel landen? Mit Mayonnaise angemacht? Du magst Hering doch gar nicht.«
»Äh, nein, nicht besonders«, sagte Barbara und hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen. Sie war zu alt für diese Art von Scherzen.
»Weshalb tust du es dann?«
»Weil«, Barbara dachte angestrengt nach, »der Heringsschmaus eine Tradition ist? Weil wir den zu Aschermittwoch immer haben?«
»Aha.« Der Fisch machte einen Satz und hängte sich mit den Seitenflossen über den Rand des Fasses. Seine runden Äuglein fixierten sie, blank, mit einem Kreis von Schwarz in der Mitte. »Das erklärt natürlich alles«, sagte er mit süßlichem Unterton, bevor er sich zurückfallen ließ. Eine kleine Wasserwelle schwappte über den Rand.
Barbara stemmte die Hände in die Hüften und starrte in das Fass. Beim Heiligen Leonhard, eine solche Sinnesschärfung hätte sie weder dem Wacholder noch dem Schnaps zugetraut!
Der Fisch schwamm einmal rundherum, ließ sie dabei nicht aus den Augen. Dann schnellte er aus dem Wasser und schlug in der Luft eine Pirouette. Sie konnte nicht umhin, seine eleganten Bewegungen zu bewundern, das schillernde Blau und Silber des glänzenden Körpers, das biegsame Rückgrat, die zarten und doch so kraftvollen Seitenflossen. Barbara zog sich einen Stuhl heran. Weshalb nicht eine kleine Unterhaltung führen, bevor er im Salz landete.
»Du bist ein hübsches Kerlchen«, sagte sie und überlegte dabei ernsthaft, ob sie noch richtig tickte. Der schlanke Kopf nickte eifrig. »Das finde ich auch. Allerdings kein Kerl, meine Liebe, sondern weiblich. Das verbindet uns, findest du nicht?« Die wulstig geformten Lippen schienen zu lachen, der geschmeidige Körper neigte sich zu einer Art Verbeugung. »Ich bin Aringae, aus der Familie der Clupea, und würde es vorziehen, am Leben zu bleiben. Ich bin nämlich die Letzte meiner Familie.«

Und dann tat der Fisch - oder besser, die Fischfrau - etwas Unterwartetes. Mit einem Satz schoss sie aus dem Fass und landete auf Barbaras Schoß. Ganz still lag sie auf der Schürze. Die Kiemen öffneten und schlossen sich, von der glatten Silberhaut tropfte Wasser. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Fisch jetzt zu erledigen, doch sie wirkte so würdevoll, fast menschlich. Barbara berührte den fein geformten Kopf, strich mit dem Finger den biegsamen Rücken entlang. Die geschuppte Haut fühlte sich zu ihrer Überraschung nicht kühl, sondern lebendig warm an. Das zarte Herz pochte schnell. Die Fischin erbebte unter der Liebkosung und auf eigenartige Weise ging Barbara das an
die Seele.
»Du könntest es jetzt tun«, sagte Aringae leise.

Barbara schluckte. »Du sagst, du bist die Letzte deiner Familie?« Sie legte behutsam die Hand um den gerundeten Leib. Ein kleines Glücksgefühl überkam sie, etwas, das sie lang - ewig lang - nicht verspürt hatte. »Du bist trächtig, hab ich recht?«
Ein Beben durchlief Aringae und ihre Schwanzspitze schlug spielerisch nach Barbaras Hand. »Wir verstehen uns, wir Frauen, nicht wahr?«
Der Stock am Boden wurde Barbara schmerzhaft bewusst. Sie war Hebamme, half dem Leben in die Welt. Jetzt schämte sie sich. Barbara trug Aringae durch den Schneematsch zu dem kleinen Bachlauf vor dem Hof. Ein letztes Mal streichelte sie den glatten Leib. »Wirst du überleben? Du bist ein Salzwasserfisch.«
Die runden, tiefschwarzen Augen blitzten der Alten im Mondlicht entgegen. »Aber natürlich. Wir Clupea sind geübt darin, uns anzupassen. Das Leben ist ein immerwährender Kreis. Und am Ende erwartet einen jeden das ewige Meer, nicht wahr?« Aringae verharrte und schmiegte sich für einen Moment in die warme Höhlung der Hände. »Hab Dank, Sittlerin. Für mein Leben. Und das meiner Nachkommen.« Dann sprang sie in einem herrlich gerundeten Satz heraus. Für einen Augenblick glänzte ihr schlanker Körper auf, schillerte im Licht der mondhellen Nacht in allen Farben eines Regenbogens. Wie ein abgeschossener Pfeil tauchte die Fischin ins Wasser, lautlos und ohne einen Spritzer.
»Leb wohl, Aringae.« Zum ersten Mal sprach Barbara den Namen laut aus und sie empfand ein leises Gefühl der Wehmut dabei. »Es tut mir leid ...«
»Kartoffeln. Du solltest Kartoffeln kochen, mit roter Bete, viel Petersil und würzigem Bergkäse. Das schmeckt hervorragend. Auch ohne unsereins«, hörte sie Aringaes Stimme. Fein und hoch, in ein belustigtes Blubbern übergehend.
Aber vielleicht bildete sich Barbara das nur ein. Womöglich waren es auch nur die Geräusche des Wassers, das unter dem Eis gluckerte.

Barbara lachte hellauf und plötzlich war ihr ganz leicht zumute. Der Laut durchdrang die Nacht wie der heisere Ruf des Winters nach dem Frühling. Ein Duft von Wacholder verfing sich in ihrer Nase. Bittersüß und verheißungsvoll.

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