09/2023
Wiedervereinigung

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---- Lesedauer ---
4 min
ZUM ORIGINALBEITRAG
Ich war 24, als die Mauer fiel.
Im Westen aufgewachsen, jung, politisch ziemlich unbedarft, gerade im Beruf angekommen.
Allerdings hatte ich Verwandtschaft in Leipzig, eine Großtante, die alle paar Jahre meine Omi besuchte. Besuchen durfte – das hab ich als Kind nicht so wirklich gecheckt. Zu einer Großcousine unterhielt ich in Jugendjahren eine Brieffreundschaft; die schlief allerdings schnell ein, als sie anfragte, ob ich Schallplatten und Jeans schicken könne. Meine Mam zeigte mir den Vogel, wir mussten sparen. Die damals angesagten Wranglers bekam ich ja selbst nicht, meine einzige Jeans war eine abgelegte meiner Tante, die ich mir zusammengeflickt hatte, damit ich sie noch ein paar Monate tragen konnte.
Den Hintergrund verstand ich erst so richtig, als ich mit siebzehn selbst im Osten war, als Besucher, einen Tag lang. Schon das Prozedere am U-Bahn-Übergang Friedrichstraße war eine Erfahrung, die ich nicht mehr brauche. Ich kam mir vor wie eine Kriminelle. Ich wurde beäugt, abgeklopft, in eine Art Spiegelkabinett geführt und ausgeleuchtet. Herrje, ich war doch nur eine Schülerin!
Meine Freundinnen und ich fuhren mit der Straßenbahn zur letzten Station, die man von Ost-Berlin erreichen konnte. Köpenik, wir wollten mehr sehen als die Hauptstadt, die DDR so richtig erleben. Bekamen wir! Schon in der Straßenbahn (und hey, das waren klapprige Waggons mit Holzsitzen und die Leute trugen echt solche russischen Fellmützen wie im Film;  okay, es war Januar, aber trotzdem, so lief bei uns keiner rum), wurden wir komisch angeschaut, weil wir lachten, gackerten, uns laut und unbefangen unterhielten. Das Lachen verging uns ruckzuck. Die Menschen hatten etwas an sich, das uns verstummen ließ.
An einer Straße stoppte uns ein Schupo und stauchte uns zusammen, weil wir die Kreuzung überquerten, ohne zu warten. Da war kein Verkehr, niemand, der uns oder den wir gefährdeten, kein gar nichts. Wir hielten die Klappe und gehorchten, irgendwie wirkte es unheimlich und ernst.
Die Schaufenster der Läden waren fast leer, hinter gelben Schutzfolien lagen ein paar bestickte Kisselchen und Deckchen, in einem ein vorsintflutlicher Kassettenrecorder. Das fanden wir schon wieder lustig, blöd wie wir waren. Für unsre eingetauschten Ostmark bestellten wir im Gasthaus das teuerste Gericht – ich hatte noch nie zuvor Wachteleier gegessen – und kauften nachher am Alex einen Haufen Schallplatten der Puhdis und jede Menge Klassik, um die Moneten loszuwerden. Man durfte ja kein Blechgeld mit zurücknehmen. Alles in allem war es kurios. Anders konnte man das nicht nennen. Die Puhdis liebe ich noch immer.
Was mir schrecklich in Erinnerung blieb, war der ältere Mann, mit dem wir uns eine Zeitlang unterhielten; er arbeitete als Fremdenführer im Köpeniker Schloss und liebte das Motorradfahren. „Ich wünsche mir nur zu fahren, wohin ich will, nicht vor der Mauer umdrehen zu müssen.“ Das beschäftigte mich. Ich konnte überall hinfahren, musste nirgends umdrehen. Ich konnte laut lachen und meine Meinung sagen. Ohne, dass mich einer scheel anschaute oder zusammenstauchte.
Das richtig Schreckliche wurde mir erst später klar …
Der Tag der deutschen Einheit ist für mich ein besonderer Tag. Ein Feiertag. Einer, an dem ich dankbar bin, dass jeder reisen darf, wohin er will. Ohne von einer Mauer ausgebremst zu werden. Die Zone ist Geschichte und der Abend des Mauerfalls, an dem ich heulend vor dem Fernseher saß, auch.
Wir dürfen nicht vergessen. Nicht vergessen, dass ein Regime Menschen bespitzelt, überwacht und unterdrückt hat. Dass Familien, Dörfer und Leben durch eine Mauer aus Beton und Misstrauen getrennt wurden. Dass Menschen für den Wunsch frei zu sein, ihr Leben lassen mussten. Dass mutige Leute aufgestanden sind und ein geteiltes Land wieder vereint ist.
Es ist unsere Geschichte.

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